Im L’Atalante wirken alle ziemlich entspannt. Selbst der Koch, der in der offenen Küche einiges zu tun hat, um die Gäste mit Streetfood zu versorgen, ist gut gelaunt. Die junge Frau und der junge Mann hinterm Tresen sowieso. 17 Biere vom Fass, ein Cider, ein Kombucha. Die beiden haben alles im Griff und offensichtlich Spaß an ihrer Arbeit. Es ist Donnerstagabend und das Lokal am Quai de la Marne im 19. Arrondissement im Nordosten von Paris ist gut gefüllt.

Porter aus London, Pils aus Tschechien, Lambic aus Brüssel, Sour aus Edinburgh, Helles aus Bristol – vor allem aber IPA, Winter Ale, Imperial Stout, Pale Ale, Wild Ale und Gose von kleinen Brauereien aus ganz Frankreich. Nächste Woche, sagt der Typ hinterm Tresen, kann die Bierauswahl wieder ganz anders aussehen. Biervielfalt jenseits der Konzernbiere – das ist das Konzept im L’Atlante. Und die Bierkarte auf dem großen Monitor zeigt, dass das nicht nur ein Pariser Ding ist. In der ganzen Republik wird gebraut.
Auch mit diesen vielen kleinen Brauereien hatte es sicher zu tun, dass die französischen Statistiker vermeldeten, dass Bier dem Wein – wenn auch mit hauchdünnem Vorsprung – den Rang als beliebtestes Getränk in Frankreich abgelaufen hat. Nach Angaben des französischen Brauereiverbands „Brasseurs de France“ sind die Franzosen trotz steigenden Bierkonsums mit einem Pro-Kopf-Konsum von 33 Litern im Jahr Schlusslicht in der EU. 70 Prozent des in Frankreich getrunkenen Biers wird im Land selbst gebraut, stark im Kommen seien dabei handwerkliche Brauereien und Mikrobrauereien. Der Verband weist dabei auch auf regionale Spezialitäten hin: Rosen- und Heidelbeerbiere führt der Verband an sowie Chicoréebiere im Norden, Buchweizenbiere in der Bretagne und Kastanienbiere in der Ardèche.

Ist Frankreich auf dem Weg zur Biernation? Das wollte ich von Garlonn Kergourlay wissen. Die Französin arbeitet als unabhängige Beraterin und betreibt zusammen mit dem Belgier Christian Vanhaverbeke die Agentur „Il était une brasserie“. Die Beratungsagentur hat bisher über 100 Brauereien bei der Gründung, Entwicklung und Expansion begleitet. Während ihr Geschäftspartner vor allem die brautechnologische Seite abdeckt, bringt Kergourlay ihre betriebswirtswirtschaftlichen und marketing-technischen Kenntnisse ein. Mit ihrem ehemaligen Lebenspartner hat sie vier Jahre lang in Toulouse eine Brauerei betrieben.

Wie erklärst du es dir, dass Bier – wenn auch nur knapp – nun vor Wein liegt in Frankreich?
Leider ist es nicht mehr wahr, Wein liegt wieder vor Bier. Aber klar, die Franzosen und Französinnen trinken seit Jahren weniger Wein und mehr Bier, das Gleiche passiert in Italien, Spanien und Griechenland. Das Gegenteil geschieht in Großbritannien, Belgien, und Deutschland, oder? Die Craft-Beer-Bewegung und ihre Vielfalt (dank aromatischerer Hopfenbiere) hat dies ermöglicht. Sie hat 1985 mit der Gründung der Brauerei Coreff in der Bretagne angefangen – und hat seit dieser Zeit nicht aufgehört. Bis 2024. Die Blase platzt leider nach einer goldenen Klammer von etwa 20 Jahren (2005 – 2025). Wir wissen nicht genau, was das kommende Jahr uns bringen wird. Alles wird sich ändern, Brauereien schließen jetzt, andere werden auch richtig groß. Komische Zeit, ziemlich angstmachend finde ich.
Warum Bier im Weinland?
Von 2012 bis 2017 wohnte ich in der Nähe von Toulouse (Gaillac), 2017 bis 2021 in Montpellier. Und jeder Journalist, jede Journalistin hat mir damals die gleiche Frage immer wieder gestellt : „Warum Bier im Weinland?“ Und ich habe immer naiverweise und dumm geantwortet: „Warum nicht?“. Man kann beides trinken und mögen, sie ergänzen sich, warum sollte man sie gegeneinander ausspielen wollen? Jetzt, weil ich in Colmar/Elsass, lebe, habe ich mit einem breiten Lächeln die richtige Antwort gefunden: „Würden Sie diese Frage einem Elsässer stellen?“
Glaubst du, dass Bier weiter an Bedeutung gewinnen kann und ähnlich beliebt wird wie in anderen Staaten der EU?
Das sind die handwerkliche Brauereien und Mikrobrauereien. Sie machen in Wirklichkeit nur 8 bis 10 % des Marktes aus, das ist nicht so viel. 70 % des in Frankreich getrunkenen Biers sind: Heineken (Pelforth, Desperados und Fischer inbegriffen) sowie Kronenbourg, 1664, Carlsberg, Grimbergen und Kanterbräu sind die meistverkauften französischen Biere.

33 Liter pro Kopf im Jahr sind es zurzeit. Vor 10 Jahren waren wir bei weniger als 30, wir haben also ein Plus von 10 % erreicht. Das ist viel! Oder?
Rosen- und Heidelbeerbiere führt der Verband an sowie Chicoréebiere im Norden, Buchweizenbiere in der Bretagne und Kastanienbiere in der Ardèche. Aus meiner Sicht sieht es so aus: Diese Biere gibt es, aber sie sind anekdotisch. Es ist die klassische Kommunikation einer Organisation, es ist schön geschrieben, aber es entspricht nicht der Realität.
Das Lieblingsbier der Franzosen: 1664 oder Heineken
Was ich sehe und erlebe: Die Franzosen und Französinnen bevorzugen immer noch die Farben (blonde, blanche, ambrée, also blond, weiß, bernsteinfarben) und kennen die Stile nicht wirklich, auch wenn das IPA mittlerweile das Trio vervollständigt. Man könnte auch noch Guinness hinzufügen. Das Lieblingsbier der Franzosen ist nach wie vor ein leicht zu trinkendes, geschmackloses Basis-Pils: 1664 oder Heineken.
Und jetzt mit der Krise geben die Franzosen und Französinnen nicht so viel Geld aus wie früher.
Wie erlebst du selbst die Entwicklung des Biermarkts in Frankreich?
Wir haben eine schöne Zeit gehabt seit 2010: Freundschaft und gegenseitige Unterstützung zwischen Brauereien, innovative Zusammenarbeit, Bierfestivals überall und viele Versuche und Entdeckungen, die dem normalen Verbraucher geholfen haben, seinen Gaumen zu schulen – ein bisschen, aber vielleicht nicht genug. Und der Geldbeutel hält leider nicht mehr mit, er bewegt sich hin zu billigeren, erschwinglicheren und wahrscheinlich weniger handwerklich hergestellten Bieren. Ich habe persönlich alles miterlebt und gemocht. Wir erleben jetzt, glaube ich, eine große Wende.
„Wir bewegen uns auf eine Konsolidierung hin“
Ja, klar wir haben sehr erfolgreiche Mikrobrauereien mit gutem Bier, die sich weiter entwickeln werden, aber es sind vielleicht 200 bis 300 von 2600 bis 2700. Und die Zeit ist eher unsicher. Wir bewegen uns auf eine Konsolidierung hin. Was auch gut ist. Aber ich fürchte, wir werden an Vielfalt und Freundschaft zwischen Brauereien verlieren. Und ich muss zugeben, das macht mich traurig, besonders zu Beginn dieses Jahres.
In Deutschland und Österreich spielt französisches Bier fast keine Rolle. Wie könnte man das ändern?
Eine sehr gute Frage, die ich mir auch letzten Sommer gestellt habe, als ich Thomas Ötinger (der Biersommelier in Bamberg ist) und seine Frau traf, die während ihres Urlaubs nach Straßburg und Colmar gekommen waren. Ich hatte das Glück, dass ich ihnen viele Namen von Brauereien nennen konnte, da sie die in ihren Reiseführern nicht gefunden hatten. Nur Empfehlungen für Sehenswürdigkeiten, Museen, Restaurants und Weingüter. Bier war völlig abwesend. Es könnte also tatsächlich etwas zu tun geben.
L’Echappée Bière in Lille bietet seine Aktivitäten jetzt auch auf Deutsch und Englisch an, glaube ich, aber das ist nur in Lille, und Lille ist nicht wirklich Frankreich. Und noch etwas: Die französischen Biere, abgesehen von denen von Heineken und Kronenbourg und einigen großen historischen Regionalbrauereien (3 Monts im Norden, Meteor im Elsass zum Beispiel), sind, seien wir ehrlich, auch zu teuer für den deutschen Markt, wo die Preise für einen 24er Kasten wirklich sehr, sehr niedrig sind.

Als deutsch-französische Botschafterin des Bieres und als Europäerin habe ich einige Ideen für die kommenden Monate. Einen deutschsprachigen Blog über französische Brauereien, die es zu entdecken gilt, zu schreiben. Und dann deutsch-französische Treffen rund um das Thema Bier zu organisieren – in Frankreich, aber auch in Deutschland. Wir hatten bereits ein erstes Projekt mit Markus Raupach und der Bierakademie Bamberg: Deutsche sollen 3 bis 4 Tage ins Elsass kommen, um die Hopfengärten und die guten lokalen Mikrobrauereien zu entdecken. Wir wollten das schon 2024 organisieren, aber es war leider nicht möglich. Ideen habe ich schon! Mal sehen….
(Fotos: Martin Rolshausen, Porträt von Garlonn Kergourlay: Kergourlay)
(16. Februar 2025)