Wenn der Vampir von seinem Job als Untersuchungsrichter genug hatte, dann ging er auf ein Bier. So erzählt es der österreichische Journalist Peter Szivatz. Und ich habe keinen Anlass, ihm nicht zu glauben. Denn er scheint Bescheid zu wissen. Der Vampir mag Märzenbier und trinkt es in der „Gösser Bierklinik“, berichtet der Autor. Fünf Krügerl davon schafft der Vampir. „Beim ersten wollen wir ihn nicht stören“, vermerkt Peter Szivatz. Er tut es aber auch bei den weiteren nicht.
Ein höchst befremdliches Leben
Der Mann war selbst eher unauffällig. Jedenfalls hatte ich noch nie etwas von ihm gehört – bis mir in der Wiener Hauptbücherei durch einen Zufall „Kipfler. Der Roman vom höchst befremdlichen Leben des Oberlandesgerichtsrates Dr. Theodor Kipfler-Schnurpfeil und seines nicht minder erstaunlichen Bruders Leopold, genannt Poldo, nebst der honetten Damen Henriette, einem sonderlichen Rechtspraktikanten, verschiedenen anderen Zeitgenossen sowie dem nachdenklichen Redakteur Alois Schneewandl“ in die Hände gefallen ist.
Peter Szivatz ist tot. Er ist 1979 dort gestorben, wo er 39 Jahre zuvor geboren wurde: in Wien. Sein Deutschlehrer war Ernst Jandl. Er selbst verdiente sein Geld erst als Journalist im Kulturressort einer Zeitung, dann als Gerichtssaalreporter. Vielleicht ist ihm der Vampir dort aufgefallen? Die Zeitungen, für die Peter Szivatz gearbeitet hat, sind jedenfalls so tot wie er selbst. Es gibt sie nicht mehr. Sein Roman Kipfler wurde erst postum verlegt – 1988, neun Jahre nach seinem Ableben also.
Man darf Vampir-Geschichten nicht trauen
Aber Vampire sterben ja nicht. Es sei denn, man rammt ihnen einen Holzpflock ins Herz oder erschießt sie mit einer silbernen Kugel – man darf diesen Erzählungen nicht glauben. Auch die Story, dass Vampire im Sonnenlicht jämmerlich schreien und zu Staub zerbröseln, scheint nämlich nicht zu stimmen. Der Vampir, von dem uns Peter Szivatz berichtet, war auch tagsüber als Oberlandesgerichtsrates Dr. Theodor Kipfler-Schnurpfeil unter uns. Oder ist er es vielleicht immer noch?
Der Zufall (oder was immer es war)
Wenn dann unter anderem Namen, denn ein unsterblicher Oberlandesgerichtsrat würde dann ja doch Aufmerksamkeit erregt haben. Dass mir der Zufall (oder was immer es war) diese Geschichte vom höchst befremdlichen Leben des Oberlandesgerichtsrates Dr. Theodor Kipfler-Schnurpfeil und seines nicht minder erstaunlichen Bruders Leopold, genannt Poldo, nebst der honetten Damen Henriette, einem sonderlichen Rechtspraktikanten, verschiedenen anderen Zeitgenossen sowie dem nachdenklichen Redakteur Alois Schneewandl in die Hände gespielt hatte, brachte mich dazu, etwas zu tun, was ich nie tun wollte: Ich bin zur „Gösser Bierklinik“ gegangen.
Dass ich das Haus in der Steindlgasse 4 in der Inneren Stadt bisher gemieden hatte, liegt daran, dass mir bereits ein großes Schild mit dem Hinweis, dass es nach links zu „Gösser Bierklinik“ geht, zuruft: „Vorsicht, dass ist eine Touristenfalle!“ Und zum Anziehungspunkt für Menschen aus der ganzen Welt, die etwas „Echtes“ suchen, taugt das Lokal allemal: „1406 erstmals urkundlich erwähnt findet es seit dem Jahr 1566 als Restaurant seine bis heute währende Bestimmung“, heißt es in er Chronik des Hauses. Laut Bundesdenkmalamt ist die „Gösser Bierklinik“ damit die älteste noch im Betrieb befindliche Gaststätte Wiens.
Erstmal Shostakovich
Geschichtlich bedeutend, ja, vielleicht. „Der besondere Wert dieses Altwiener Gasthauses begründet sich auf die Tatsache, dass seine 400 jährige Geschichte im Charme des Hauses gespürt werden kann“, wie das Unternehmen für sich selbst wirbt – nein. Als ich das Haus betreten habe, war ich kurz im New York des Jahres 1999. Es kam nämlich gerade dieser Walzer aus dem Lautsprecher, den Stanley Kubrick stellenweise als Hintergrundmusik in „Eyes Wide Shut“ mit Tom Cruise und Nicole Kidman laufen lässt: Shostakovichs Waltz no. 2 from the Jazz Suite.
Dann fragte mich ein Kellner, ob ich etwas essen oder nur etwas trinken wolle. Als Trinker wurde ich in den dafür vorgesehenen Teil des Lokals bugsiert. Ich war allein mit zwei Miniaturzechern auf einem Regalbrett in der Ecke und einem alten Radio, das nur noch zur Deko taugt. Nein, ich hatte nicht erwartet, hier einen Vampir zu treffen. Aber auf ein Gösser Märzen vom Fass habe ich mich gefreut, um zumindest in Gedanken mit dem Oberlandesgerichtsrat Dr. Theodor Kipfler-Schnurpfeil anstoßen zu können.
Am Tresen in der Nähe gibt es einige Zapfhähne. Zwei davon sind dem Wein vorbehalten – hier werden Zweigelt und Grüner Veltliner gezapft. Ein Krügerl Gösser Märzen also, bitte. Von Gösser nur Spezial, Zwickel, Dunkel. Ein Pils gibt es noch und etwas von Schladminger. Und Gösser Radler – um Himmels Willen! Gösser Märzen nur aus der Flasche. In dem Fall: Spezial.
Touristenfalle
An der Tür nun eine Gruppe Touristen. Etwas essen? Nein, nur mal schauen und etwas trinken. Es wird laut in der Stube. Ich blättere in „Kipfler“, bis ich die Stelle gefunden habe: „Nur die Amateure sind es ja eigentlich, die beim Trinken unbedingt auch noch denken wollen oder reden, oder denken oder reden zu vermissen glauben.“ „Noch eins?“, fragt mich der Kellner mit Blick auf mein noch nicht ganz leeres Glas. „I hab genug. I geh auf a Bier“, hat der Dr. Theodor Kipfler-Schnurpfeil seinem Assistenten immer mitgeteilt, wenn es ihm zu viel wurde. Ich winke ab, muss hier weg und denke es mir nur: „I hab genug. I geh auf a Bier.“
(30. Dezember 2023)